Inhalt
Olfa ist Mutter von vier rebellischen Töchtern, die sie alleine in Tunesien großzieht. Die beiden älteren schließen sich 2016 im Teenageralter dem IS an und verschwinden nach Syrien. Die Filmemacherin Kaouther Ben Hania sucht in ihrem Dokumentarfilm nach den Gründen, die hinter dieser für die Familie unfassbaren Entscheidung stehen. Dafür bittet sie die Mutter und die jüngeren Schwestern, Schlüsselszenen ihres Familienlebens nachzuspielen. Die Leerstellen der Verschwundenen werden mit Schauspielerinnen besetzt. In dieser kammerspielartigen, fast therapeutisch anmutenden Situation gelingt es der Regisseurin auf atemberaubende Weise, die Komplexität und Widersprüchlichkeit menschlicher Beweggründe ans Licht zu holen, die immer so viel mehr sind, als unsere schnellen Urteile uns glauben machen. Ein Film, der es darüber hinaus schafft, inmitten von Düsternis auch von Wärme und unverwüstlichen Humor zu erzählen.
Umsetzung
Im reduzierten Setting eines verlassenen Hotels, mit einer fast rein weiblichen Crew, schafft die Regisseurin einen idealen Ort für das intime Reenactment des Geschehenen. Um hinter die Erzählungen der medienerprobten Olfa zu gelangen, setzt die Regisseurin auf eine Versuchsanordnung, die am Ende dramaturgisch aufgeht: dem Nachspielen der Schlüsselszenen unter Mitwirkung von Schauspieler*innen. Es sind vor allem die Momente der Vorbereitung der Szenen, die viel über Olfa und ihre Töchter erzählen: Wenn die Schauspielerinnen nachfragen, wie sie die Szenen spielen sollen oder was die Motive für Reaktionen waren. Dazu ergeben sich im Spiel selber immer wieder Momente, in denen sich die Grenzen zwischen Schauspiel und realen Emotionen auflösen. Durch dieses experimentelle Erzählen gelingt es der Regisseurin, die familiären Muster und die gesellschaftlichen Verhältnisse parallel in den Blick zu bekommen und deren Wechselwirkung begreifbar zu machen.
Anknüpfungspunkte für die pädagogische Arbeit
Die vielschichtige Annäherung des Films an seine Geschichte lädt dazu ein, verschiedene dokumentarische Herangehensweisen näher zu untersuchen. Was wird über die Technik der Interviews erfahrbar, was vermittelt sich über das Schauspiel, was erfahren die Zuschauer*innen in Gesprächen oder Interaktionen von Mutter und Töchtern zwischen den Spielszenen? Der Film transportiert überdies eine weite Spannbreite an Themen, die den transkulturellen Dialog fördern: das Heranwachsen zwischen tradierten Moralvorstellungen und den Verheißungen einer modernen Gesellschaft, Frauen in patriarchalen Systemen oder das Weitergeben von Mustern in Familien. Die Diskussionen tragen dazu bei, vorschnelle Urteile, wie sie jeder Mensch meist unbewusst fällt, zu hinterfragen.